Die Komplizenschaft

Irgendwie wird eine Serie daraus: Schon vor längerer Zeit hatte ich einen Beitrag Was ist eigentlich ein Team? geschrieben und dort die Organisationsformen Zweierbeziehung, Gruppe, Team, Familie und Organisation unterschieden. Etwas später kam dann noch das Netzwerk dazu. Vor einigen Wochen bin ich auf das Phänomen der Komplizenschaft aufmerksam geworden und möchte damit die Serie dieser Unterscheidungen fortsetzen.

Als regelmäßiger Leser der REVUE (für postheroisches Management) war ich zunächst über den kurzen Beitrag „14 Regeln der Komplizenschaft“ von Gesa Ziemer gestolpert und hatte kurz darauf Gelegenheit mit Gesa persönlich darüber zu sprechen. Vermutlich haben wir sogar selbst eine Komplizenschaft gebildet als wir erst gemeinsam Gunter Dueck´s Keynote lauschten und dann zusammen, aber doch nicht offensichtlich, im ICE nach Hamburg zurückfuhren.

Komplizen agieren nie alleine, erscheinen nicht als solche, sondern als Einzelgänger, schließen temporäre statt dauerhafte Beziehungen, finden sich, anstatt zu suchen, agieren in einem Kontext, der nichts davon ahnt, sind Lebens- und Überlebenstaktiker, aktivieren das Kleine im Großen, profitieren von Differenz, vertrauen, weil sie ein Risiko eingehen oder eine Chance wittern – das sind einige der frei entwickelbaren Regeln.

Im Unterschied zu den Organisationsformen Gruppe, Team, Familie, Organisation und Netzwerk ist eine Komplizenschaft ein Anfangsphänomen das möglicherweise später in eine andere Form transformiert. Komplizenschaften entstehen emergent durch die Co-Kreation eines gemeinsamen, für alle Komplizen nützlichen Ziels.

Komplizenschaft vs. Team. Während Projektteams gewöhnlich Aufgaben vorgegeben bekommen oder mit diesen konstituiert werden, handelt die Komplizenschaft die Taten erst noch aus. Während Projektteams künstlich herstellbar sind, das ist wahrscheinlich sogar der Normalfall, lassen sich Komplizenschaften nicht gewollt herbeiführen oder planen. Sie finden sich anstatt sich zu suchen, d.h. die Komplizen bemerken ihre Gemeinsamkeit, also etwas, das sie zusammenhält.

Komplizenschaft steht unter einem besonderen Druck aufzufliegen und der Manifestationsmöglichkeit eines bedeutsamen Risikos (oder einer besonderen Chance). Daher ist komplizitäres Arbeiten meistens eine sehr präzise und vertrauensvolle (Zusammen-)Arbeit.

Komplizenschaft vs. Freundschaft und Familie. Freundschaften werden gewöhnlich ohne zeitliche Beschränkung eingegangen und sind niemals nutzenorientiert.

Komplizenschaft vs. Netzwerk. Ein Netzwerk kann dauerhaft inaktiv sein und ist eine latente Beziehungsstruktur. Eine Komplizenschaft entsteht aus Aktivität.

Eine weitere Besonderheit und gar Voraussetzung von Komplizenschaften scheint die Fähigkeit ihrer Mitglieder zu sein, stets andere Rollen einnehmen zu können, wenn es bspw. die Situation erfordert.

Gesa Ziemer hat Komplizenschaften unter anderem im kriminologischen Umfeld studiert, also bspw. Bankräuber. Mir fehlte da der Zugang, aber ich habe ein anderes Studienumfeld gefunden: Twitter. Seit ich den Begriff Komplizenschaft abgrenzen kann, bemerke ich (mich als Teil von) Komplizenschaften immer öfter im Internetkontext, vor allem in Twitter, in Diskussionsgruppen und zwischen Bloggern. Dort entstehen Kommunikationen über verschiedene Ebenen, Medien, Subverteilerkreise und vor allem unklare Indirektionen (meine Nachrichten erreichen teilweise auch die Follower meiner Follower – oft ohne mein Wissen) hinweg. Die meisten Beobachter können Nachrichten nur als singuläres oder sehr begrenztes Ereignis wahrnehmen. Einige wenige aber können erweiterte Bedeutungszusammenhänge (wer reagiert wie worauf) erkennen, dadurch eine Gemeinsamkeit entdecken und erhalten damit die Möglichkeit, in diesem Moment durch einen Tweet oder Retweet Komplize zu werden. Was wiederum andere wahrnehmen könnten. Eine Anzahl von Personen erkennt also einen gemeinsamen Kommunikationskontext – die Komplizenschaft emergiert.

In Twitter ist es (praktisch) wenig transparent, wer wen wie gut kennt oder wem folgt und ob und an wen sich bestimmte Botschaften richten. Zusätzlich ergeben sich regelmäßig unerwartete Nachbarschaften: es reagieren unerwartete Personen auf Tweets. Für Beobachter ist kaum zu erkennen, ob und in welcher Beziehung die Kommunizierenden vorher standen oder hinterher stehen werden. Hier offenbart sich die Widersprüchlichkeit komplizitärer Handlungen: Intensität vs. Temporalität, Initimität vs. Öffentlichkeit, Vertrauen vs. Mißtrauen/Risiko.

Bernd

(auch: „der um den Stuhl schleicht“ – aber das verstehen jetzt nur wenige…)

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