Selbstorganisation – sozialromantischer Mythos von Gleichheit oder offensiv genutzte Differenzen?
Im letzten Blogbeitrag war ich der Frage nachgegangen, was ein Team (im Unterschied zu einer Gruppe, einer Organisation oder einer Familie) ist. Das möchte ich noch weiter vertiefen. Im Zusammenhang mit Selbstorganisation existiert der sozialromantische Mythos, alle seien gleich oder gleichberechtigt. Bei der Unterscheidung von Team und Gruppe ist bereits deutlich geworden, dass gerade die Unterschiedlichkeit der Beteiligten ein typisches Merkmal eines Teams ist – wie paßt das denn zu Gleichheit oder Gleichberechtigung?
Zunächst einmal ist der Rahmen und die Größe der Organisation zu unterscheiden. Ein soziales System besteht aus Akteuren die miteinander kommunizieren und handeln. Je nachdem, wie fest oder lose die Akteure gekoppelt sind und wie fest oder lose die Aktionen (Handlungen) gekoppelt sind, funktioniert Selbstorganisation anders. Es macht also einen Unterschied, ob Selbstorganisation für eine Gruppe, ein Team, eine Familie oder eine große Organisation betrachtet wird (zu den Begriffen siehe meinen letzten Blogeintrag). In Teams existiert typischerweise ein hohes Maß an direkter personenbezogener Kommunikation, während in großen Organisationen indirekte und rollenbezogene stärker ist.
Die Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder ist die Stärke eines Teams
Ein Kennzeichen von Teams und Organisationen ist, dass ihre Mitglieder unterschiedlich sind und bspw. unterschiedliche Fähigkeiten und Funktionen haben. Die rein quantitative Vermehrung einer einzelnen Funktion oder Fähigkeit ist in Organisationen normalerweise nicht besonders interessant – die Arbeitsteilung, Interdisziplinarität und damit Spezialisierung ist es.
Wenn sich Mitglieder einer Organisation in ihren fachlichen und sozialen/kommunikativen Kompetenzen ergänzen und unterscheiden, existiert keine Gleichheit und Gleichberechtigung ist kontraproduktiv. In einem Operationsteam entscheidet der Chirug, wo die Aterie getrennt wird und nicht der Anästhesist. Und schon gar nicht, diskutiert das gesamte OP-Team darüber. Darüber ist jeder Patient auch froh. Die Forderung nach Gleichberechtigung in einem Team (oder in einer Organisation) würde ganz berechtigt Konflikte verursachen.
Außerdem sind bestimmte Personen eher austauschbar bzw. verzichtbar, einige mehr als andere identitätsstiftend für das Team usw.
Hierarchie gibt immer und ist nicht unbedingt schlecht
Die systemische Ordnung (informelle Hierarchie) spielt eine wichtige Rolle. Jemanden der sehr lange Mitglied ist und schon viele Verdienste und Anerkennung durch seine Arbeit erworben hat, wird von den anderen Mitgliedern typischerweise mehr Einfluss zugebilligt als jemand der ganz neu ist der Gruppe ist. Jemand der neu in ein Team kommt, kann vom ersten Tag an zu bestimmten Fragen hohen Einfluss haben, wenn er von den übrigen als ein besonderer Experte hierzu angesehen wird. Wenn jemand schon zig mal bewiesen hat, dass er etwas bestimmtes sehr gut und erfolgreich kann, dann hat das Team Vertrauen, ggf. gar blindes Vertrauen in seine Fähigkeiten. Jemand, der dies das erste Mal probiert, bekommt eine Chance, einen Vertrauensvorschuss und wird wahrscheinlich aufmerksam beobachtet. Die beiden sind nicht gleich und werden aus gutem Grund ungleich behandelt. Eine Hierarchie oder Ungleichheit gibt es also immer – die Frage ist nur, wie weit die offizielle zu der informellen paßt.
Von Außen wird ein Team meistens als eine Einheit gesehen, es erhält eine kollektive „Ihr“-Identität. Die kann von der internen Sicht, der „Wir“-Identität abweichen. Wenn ein Mitglied das Außenbild beschädigt, beispielsweise gegenüber Dritten Stuss redet, betrifft das auch jedes einzelne Mitglied. Deswegen unterliegen die außenorientierten Handlungen des Einzelnen in einem Team typischerweise einer sozialen Kontrolle. Außerdem entstehen auf diese Weise (asymmetrische) Abhängigkeiten zwischen den Mitgliedern. Dadurch ist es beispielsweise an sich kein Problem, wenn ein Team nach Außen einen Teamleiter hat, sondern erst dann, wenn bspw. dem Teamleiter die gemeinschaftliche Leistung des Teams persönlich zugeschrieben wird oder er Werte oder Überzeugungen des Teams dabei verletzt.
Die (selbstbestimmte) Wahl eines Teamsprechers/Außenrepräsentanten kann die Kommunikation mit der Umwelt vereinfachen (weniger Widersprüche, Redundanz und Koordination) und ist aus interner Sicht unproblematisch, solange der Sprecher sich nicht als Chef aufspielt. Ebenfalls überlegenswert ist die Benennung von verschiedenen Sprechern zu spezifischen voneinander weitgehend unabhängigen außenrelevanten Themen.
Ein interner Teamleiter kann teaminterne Prozesse vereinfachen, wobei Steuerungs- und Führungsaspekte getrennten Personen obliegen und nicht vermischt werden sollten. In Scrum übernimmt bspw. der Scrum-Master (überwiegend) die Führungsrolle und der Product-Owner (überwiegend) die Steuerungsrolle. Der Scrum-Master agiert in der Art eines systemischen Coaches und Prozessberater, der moderiert und „von unten“ mit Fragen, Anregungen und Ideen führt und die Aufmerksamkeit des Teams auf die richtigen Fragen lenkt. Ein Product-Owner entscheidet „von oben“ über Ziele und das „Was“ für ein Team. Steuerung (Entscheidungen, Anweisungen von Oben) wird immer noch viel zu oft verteufelt, vermutlich weil wir lange Zeit darunter leiden mußten, das der für ein stabiles Umfeld konzipierte Taylorismus fehlgeleitet im dynamischen Kontext praktiziert wurde. Nichtsdesttotrotz fördert Steuerung richtig eingesetzt die Effizienz und Effktivität beispielsweise in Standardsituationen.
Wenn Teammitglieder individuell ihre Fähigkeiten entfalten können sollen, wenn komplementäre Stärken genutzt werden sollen, dann sind Ungleichheit und Ungleichbehandlung notwendig. Ansonsten bestimmt im Zweifelsfall das schwächste Mitglied, das Mittelmaß oder gar der kleinste gemeinsame Nenner die Norm.
Die Wirkungen und Implikationen von Ungleichheit unterscheiden sich zudem in Abhängigkeit vom gruppendynamischen Status (vgl. Gruppendynamik, gruppendynamische Phasen, Tuckman-Modell). Es gibt wahrscheinlich immer ein Alphatier – Probleme entstehen, wenn es mehr als ein Alphatier gibt und diese die gegebene Hierarchie nicht akzeptieren und stattdessen verändern wollen. Eine explizit gesetzte Hierarchie wirkt eher konfliktreduzierend, da nur Veränderungswünsche zu Konflikten führen und alles andere kanalisiert wird. Die Abwesendheit einer Hierarchie wirkt tendenziell konfliktfördernd, weil weniger Sicherheit und Orientierungsrahmen gegeben werden und nahezu jedes Verhalten die Aufmerksamkeit (und Reaktionen) der Alphatiere erregt.
Nahezu gleichberechtige, symmetrische Beziehungen Beziehungen sind vor allem in Zweierbeziehungen möglich – egalitäre Mehrpersonenbeziehungen scheitern jedoch zu oft oder sind Verschwendung. Das was für ein „Dream-Team“ aus zwei Personen gilt, läßt sich kaum auf Mehrpersonenbeziehungen übertragen.
Entscheidungen: Kompetenz oder das Mittelmaß?
Team-Entscheidungen sollten von den dafür kompetenten Mitgliedern getroffen werden, von den Experten, nicht vom Kollektiv. Ausnahmen sind statistisch orientierte Verfahren, bspw. Mittelwertbildung bei einer gemeinsamen Schätzung, wenn deren Erfolg empirisch gesichert ist oder wenn es keine Experten gibt, hier also zufällig doch alle gleich sind. Ansonsten gilt: „der Chirug entscheidet“. Viele eingespielte Scrum-Teams und Teams die im „flow“ sind, machen dies ganz intuitiv.
Wenn Entscheidungen der Kompetenz folgen, dann setzt dies auch voraus, dass das Team die Unterschiede kennt, darüber spricht, also auch die Leistungen ihrer einzelnen Mitglieder bewertet und beurteilt. Deswegen sind Konfliktfähigkeit und wertschätzendes aber klares Feedback Erfolgsfaktoren von Teams. Routinierte Selbstbeobachtung bspw. durch regelmäßige Retrospektiven hilft dabei.
Fazit
Gute Selbstorganisation heißt also unter anderem:
- Mitglieder einer Organisation sind prinzipiell ungleich und nicht gleichberechtigt. Starke Teams nutzen dies offensiv.
- Eine formale Hierarchie, die der informellen (systemischen) Ordnung widerspricht, ist kontraproduktiv. Je näher jedoch die formale sich mit der informellen Hierarchie deckt, desto eher kann sie den Erfolg eines Teams stützen.
- Sofern Teamleiter (nach innen gerichtet) oder Teamsprecher (nach außen gerichtet) als kontraproduktiv empfunden werden, ist dies ein Indiz dafür, dass ein Team mit gezogener Handbremse fährt und es die Ungleichheiten gar nicht offensiv nutzen kann.
- Umgekehrt können Teamleiter die Entscheidungseffzienz steigern und Teamsprecher die Kommunikation verbessern.
- Ein gutes Team sucht, benennt, bewertet, nutzt explizit die individuellen Eigenschaften und Stärken ihrer Mitglieder und redet Tacheles.
- Entscheidungen treffen die für die jeweilige Entscheidung kompetentesten Mitglieder. Entscheidungen sind also zweistufig: erst schaut das Team, wer entscheiden soll und fallbezogen kompetent ist, dann entscheiden die ausgewählten Entscheider.
- Regelmäßige Selbstbeobachtung stärkt Teams.
Teams können sich normalerweise ihre Ziele (das Was) nicht selbst suchen, sondern bekommen sie gegeben. Selbst, wenn sie sich quasi von selbst bilden, beruht der Kommunikations- oder Gründungsanlass in der Regel auf einem gegebenen Problem. Teams können jedoch entschieden, wie sie das Ziel verfolgen und erreichen.
Kommentare sind geschlossen.
Interessanter Artikel. Als Fazit möchte man zusammenfassen, dass Gleichheit und Gleichberechtigung in der Tat „sozialromantische Mythen“ sein und stattdessen in einem Team eine natürliche („systemische“) Ordnung bestehe bzw. sich herausbilde. Der Teamleiter oder der Entscheidungsträger wird aus der Mitte des Teams, ja man muss schon sagen, „erwählt“.
Sie benutzen (bewusst?) zwei Grundwerte unserer Gesellschaft um diese als „Sozialmythos“ zu entlarven. In den 80iger Jahren hätte man Sie mit Jutesäckchen und Birkenstocksandalen beworfen, heute scheint es aber derlei Kritik „en vogue“ zu sein. Haben wir es hier mit einem neuen Zeitgeist zu tun?