Auf dem Weg in die Netzwerkgesellschaft
Irgendwie verändert sich unsere Gesellschaft gerade gewaltig, wir alle spüren es, wir kommunizieren zunehmend anders, die Zeit vergeht schneller, die Welt wird unübersichtlicher und das Internet scheint der Auslöser für diese ganzen Veränderungen zu sein.
Meine These hierzu: Dieser tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsprozess ist der Weg von der Massen- zur Netzwerkgesellschaft. Neue Informationstechnologien haben uns diesen Weg eröffnet (vgl. Bitte kommen Sie, ich möchte mit Ihnen sprechen). Im folgenden Beitrag möchte ich den Fragen nachgehen:
- Was ist eigentlich eine Netzwerkgesellschaft?
- Und was ändert sich dadurch in der Arbeit, der Kommunikation und unseren Ängsten?
Der Beitrag ist ausnahmsweise mal etwas länger geworden. Eine 10-teilige Serie daraus zu machen, hätte die verzögerten Teile aber doch nur veralten lassen. Also:
Was ist ein Netzwerk?
Jan van Dijk, Professor für Soziologie und Kommunikationswissenschaft an der Universität Twente, definiert in seinem Buch „The Network Society“ sehr vage: Ein Netzwerk ist ein relativ offenes System, das mindestens drei relativ geschlossene Systeme miteinander verbindet (S. 30).
Meine eigene Definition von Netzwerk aus einem älteren Blogbeitrag möchte ich nunmehr wie folgt neu fassen:
Ein Netzwerk ist eine Form von Organisation (=soziales System), deren Mitglieder nur lose miteinander verbunden sind und in der sich Teile ihrer Mitglieder immer wieder temporär und in variierenden Zusammensetzungen zu bestimmten gemeinsamen Handlungen zusammenfinden. Das kann einfach nur die Diskussion zu einem bestimmten Sachverhalt sein, ebenso aber auch ein formal konstituiertes Projekt. Sie treten damit wiederkehrend aus latenten (schlafenden) in aktive Beziehungen zueinander ein, mit denen sie wiederum ihre Beziehungen auffrischen, vertiefen und auch neue Netzwerkmitglieder kennen lernen.
Jedes einzelne Mitglied kennt mindestens einige andere Mitglieder (Kontakte 1. Grades), viele andere Mitglieder aber eben auch nicht bzw. nur indirekt (Kontakte 2. und höheren Grades). Die Beziehungs- und Bindungsstärke zwischen Mitgliedern nimmt im Laufe der Zeit immer mehr ab, wenn sie sie nicht durch gemeinsamen Handlungen auffrischen. Insofern ist die Unterscheidung nach Kontakten 1. bis n. Grades von eher geringer Bedeutung, da “sich kennen” relativ ist und sehr unterschiedlicher Qualität sein kann.
Diese gemeinsamen Handlungen oder Projekte haben folgende Eigenschaften:
- sie können unterschiedlich intensiv sein (Intensität)
- sie werden durch unterschiedlich viele Mitglieder getragen (Ausdehnung)
- Intensität und Ausdehnung können sich im Laufe der Zeit ändern (Dynamik)
- sie sind emergent
Es sind also Orte und Zeiten, “an denen etwas los ist”, weswegen ich diese ganz allgemein als (emergente) Aktivitätspunkte oder Hotspots bezeichnen möchte.
Da in Projekten meistens bestimmte unterschiedliche Fähigkeiten benötigt werden und diese nicht immer vollständig aus dem Netzwerk rekrutiert werden können (weil sie dort nicht vorhanden sind oder gerade keine Zeit haben), erweitern sich Netzwerke regelmäßig. Ein Netzwerkmitglied bringt ein neues Mitglied ein, dass er aus anderen Kontexten (Netzwerken) kennt. Ein Mitglied, das viele Kontakte außerhalb eines Netzwerkes hat, ist für dieses Netzwerk deswegen in der Regel wertvoller, als solche, die nur innerhalb des aktuelles Netzwerkes Kontakte haben. Wobei sich der Wert des einbringenden Mitgliedes natürlich mit jedem eingebrachten Neumitglied reduziert. Umgekehrt lernen andere Netzwerkmitglieder das neue Mitglied kennen, was ihren Kontaktpotentialwert in anderen Netzwerkes steigen lässt. Letztendlich profitieren also alle davon. Deutlich wird damit aber auch, dass die Grenzen eines Netzwerkes und seine Zugehörigkeiten nicht nur vage sind, sondern auch noch sehr dynamisch bzw. instabil.
Zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Netzwerks gibt es in der Regel kaum formale oder vertragliche Beziehungen. Allenfalls bestimmte Hotspots transformieren und konstituieren sich ggf. bspw. als Projekte, BGB-Gesellschaften o. Ä. Von der Struktur her ist ein Netzwerk keine Hierarchie, sondern eher eine Heterarchie, d.h. Über- und Unterordnungsverhältnisse werden durch dezentrale Selbststeuerungsmechanismen ersetzt. Die Mitglieder bleiben weitgehend autonom.
Ein Netzwerk, das keine neuen Hotpots mehr hervorbringt, schläft ein und hört auf zu existieren. Das entspricht der systemtheoretischen Sicht von Niklas Luhmann, mit der sich ein Netzwerk auch als eine Folge von anschließenden Kommunikationen definieren läßt, auch wenn ich ansonsten vereinfachend von Mitgliedschaften spreche.
Mitglieder eines Netzwerkes können Individuen oder Organisationen sein. Netzwerke können wiederum Netzwerke bilden. Netzwerke existieren innerhalb von Gesellschaften. Wenn die Organisationsform des Netzwerkes bestimmend für den Charakter einer Gesellschaft ist, können wir von einer Netzwerkgesellschaft sprechen. Auf der aller oberster Ebene steht dann also das globale Netzwerk, die vernetzte Zivilisation. Netzwerke sind nicht neu, ihre Bedeutung wird aber für den Charakter unserer Gesellschaften bedeutsamer, deswegen finde ich es sinnvoll, “vom Weg in die Netzwerkgesellschaft” zu sprechen.
Eine weitere Möglichkeit zu ergründen, was ein Netzwerk oder was die Netzwerkgesellschaft ist, entsteht aus der Abgrenzung und Unterscheidung von ähnlichen, gegensätzlichen oder anderen Konzepten. Die Aspekte, die es hierbei lohnt zu betrachten, sind
- Zentralisierung vs. Dezentralisierung
- zentrale Steuerung vs. lokale Autonomie
- Vereinheitlichung vs. Fragmentierung
- Sozialisation vs. Individualisierung
- Verbundenheit vs. Unverbundenheit
- Offenheit vs. Geschlossenheit
- physisch vs. virtuell
- langsam vs. schnell (subjektives Zeitempfinden)
- Nähe vs. Distanz
Zentrale Objektivität vs. dezentrale Subjektivitäten
In der Massengesellschaft stehen die Massenmedien über der Gesellschaft. Massenmedien, bspw. große Boulevardzeitungen, haben Macht über den Einzelnen und produzieren Beiträge, die wir lesen, hören und sehen können. Von Massenmedien die über der Gesellschaft stehen, erwartet die Gesellschaft Unabhängigkeit, Objektivität, Trennung von Meinung und Nachricht u.Ä. – etwas, dass in unserer Gesellschaft immer noch vom Journalismus gefordert wird und auch mal zu dessen Selbstverständnis gehörte. Die Massengesellschaft unterstellt dabei, dass es eine einzelne Realität und so etwas wie Objektivität gibt, d.h. unabhängig vom einzelnen Subjekt eine Wahrheit zu einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt besteht.
In der Netzwerkgesellschaft hingegen sind die Medien eingebettet und dort werden Qualitätsminderungen, Subjektivität und Abhängigkeiten prinzipiell akzeptiert, solange der Geltungskontext einschätzbar ist und eine prinzipielle Transparenz und Toleranz gegenüber anderen Wirklichkeitskonstruktionen erwartet werden darf. In der Netzwerkgesellschaft gibt es viele lokale Realitäten und Objektivitäten. Nicht eine einzelne Wahrheit und Realität wird angenommen, sondern viele unterschiedliche in den vielen unterschiedlichen globalen Dörfern (vgl. Marshall McLuhan). Die Netzwerkgesellschaft ist eine konstruktivistische Gesellschaft.
Netzwerk vs. Markt
Ein Netzwerk grenzt sich gegenüber einem Markt dadurch ab, dass Anbieter und Produzenten sowohl in Kooperations- als auch in Konkurrenzsituationen stehen. Die Marktmechanismen werden durch die Gleichzeitigkeit von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen verändert und erweitert – inklusive des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage. Die Grenzen von Produzent und Konsument verschwimmen. So kennen wir, seit Alvin Tofflers 1980 “Die Dritte Welle” veröffentlichte, den Begriff Prosumer und auch die Dimensionen lokal-global werden aufgelöst und führen uns zu dem neuen Begriff „glocal“. Netzwerke besitzen Eigenschaften von traditionellen Märkten, als auch von traditionellen hierarchischen Organisationen, unterscheiden sich andererseits aber auch von diesen.
Macht (1. Ordnung)
Im hierarchischen System kennt und steuert ein Zentrum über vertraglich geregelte Machtbeziehungen alle peripheren oder vertikalen Einheiten, die sich horizontal untereinander oft wenig kennen und die horizontal keine oder nur bedingt vertraglich geregelte Macht übereinander besitzen. Vertragliche Beziehungen in diesem Zusammenhang sind z. B. Arbeitsverträge, Werkverträge, Dienstleistungsverträge, Vereinbarungen in Matrixorganisationen. Neben den vertraglich geregelten existieren informelle, aber deswegen nicht weniger wirksame, Macht- und Beziehungsstrukturen. In Netzwerken sind alle Beziehungen vorwiegend informeller Art.
Zugehörigkeit
In einer Unternehmensorganisation gehören deren Mitglieder, also die Mitarbeiter, standardmäßig eindeutig und vertraglich gesichert dazu. Ihr Risiko besteht darin, ausgeschlossen und bspw. gekündigt oder gemobbt zu werden. Es bedarf hier also besonderer Handlungen und Kommunikationen, um ausgeschlossen zu werden.
In einem Netzwerk hingegen gehört kein Mitglied standardmäßig sicher dazu. Jedes Mitglied hat stets das Risiko, keinen Anschluss-Hotspot mehr zu finden. Es bedarf hier stets besonderer Anstrengung, zugehörig zu werden oder zu bleiben.
Aus Sicht der Zugehörigkeitsveränderung unterliegen Unternehmens- und Netzwerkorganisationen komplementären Werten und Prinzipien. Mitglieder eines Netzwerkes nutzen daher üblicherweise alle kommunikativen Möglichkeiten und alle Medien, um nichts zu verpassen, möglichst dazu zu gehören bzw. ihre schwindsüchtige Zugehörigkeit regelmäßig zu aktualisieren. Klassische Unternehmensangehörige haben weitaus weniger Gründe zum Networking als echte Freiberufler.
Direkte und vermittelte Kommunikation
Im Zusammenhang mit Netzwerken müssen wir zwei verschiedene Arten von Kommunikation unterscheiden:
- Zum einen die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht.
- Zum anderen die durch Medien vermittelte Kommunikation.
In der Netzwerkgesellschaft werden vermittelte und unvermittelte Kommunikationen stärker kombiniert. Die vermittelten Kommunikationen kommen dabei zu den unvermittelten hinzu. Es scheint nicht so zu sein, dass die vermittelte Kommunikation die unvermittelte einfach ersetzen würde. Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bleibt die wichtigste Art der Kommunikation, auch in der Netzwerkgesellschaft. Jedes Kommunikationsmedium erzeugt seine eigene Geschwindigkeit. Die elektronisch vermittelte Kommunikation beschleunigt die Kommunikation und damit das gesamte Leben maßgeblich.
Bindungsstärke
Die Bindungsstärke der Individuen innerhalb eines Netzwerkes ist in den meisten Fällen geringer als in traditionellen Familien, Nachbarschaften, Communities und Organisationen der Massengesellschaft. In der Massengesellschaft sind die Individuen in einer eher überschaubaren Anzahl von Gruppen Mitglied, bspw. Familie, Kollegen/Firma, Wohnnachbarschaft und Verein. Die Konstitution und Aktivierung dieser Gruppen ist meistens erkennbar an bestimmte Orte oder Zeiten gebunden. Traditionelle Organisationen betreiben viele Prozesse und Rituale, um die Bindungsstärke zwischen ihren Mitgliedern regelmäßig zu erneuern und zu vertiefen, bspw. Weihnachtsfeiern, Kantinen, Geburtstagskucheneinladungen, Strategie- und Abteilungsworkshops, Retrospektiven, interne Fortbildungen etc.
Individuen der Netzwerkgesellschaft sind in der Regel in mehr Gruppen und Netzwerken Mitglied als die der Massengesellschaft, aber eben auch unverbindlicher und lockerer. Mitglieder in einem Netzwerk erfahren und wissen andere Aspekte voneinander als Mitglieder in konventionellen Organisationen. In beiden Fällen teilen sie gemeinsame Ideen, Ziele, Werte, Ideologien oder Überzeugungen und vertrauen sich zumindest minimal gegenseitig. Die Mitglieder eines Netzwerkes sind auf Grund ihrer größeren Unabhängigkeit im Latenzmodus innerhalb eines Hotspots stärker voneinander abhängig, vor allem von der Qualität und Zuverlässigkeit ihrer Netzwerkpartner. Die sozialen Einheiten der Netzwerkgesellschaft sind fragmentiert und verstreut und vielfältig vernetzt.
Andererseits entstehen derzeit in und mit dem Internet massenhaft geografisch lokale und bspw. Stadtteil spezifische Plattformen (bspw. niriu.com) und immer mehr inhaltlich spezialisierte und insgesamt vielfältige Netzwerkplattformen. Auch die DIY– und die Coworking-Bewegungen deuten auf den Bedarf nach zwar flexiblen und spezialisierten aber dennoch ebenso persönlicheren Beziehungen an. Viele neue dritte Orte (ein Begriff den der Soziologe Ray Oldenburg in den 1980er Jahren kreierte) mit spezifischen Eigenschaften entstehen.
Wissenskreation
Vor der Erfindung des Buchdrucks wurde Wissen vermutlich vor allem in Form von erzählten Geschichten weiter getragen. Mit dem Buchdruck entstand ein hierarchisches und einseitig gerichtetes Massenkommunikationsmedium. Wenige Verlage und Autoren bestimmen die Inhalte. Wissen ist hier eine individuelle Ressource. Der freie Zugang zu Büchern stellte einen besonderen Wert dar. In den Anfangstagen des Internets war dieses zunächst nur eine Verlängerung dieser bestehenden gesellschaftlichen Kommunikationsprinzipien.
Heute, also rund 20 Jahre nach Erfindung des WWW und 50 Jahre nach entsprechenden Prognosen von Marshall McLuhan hat unsere Gesellschaft bereits so viele disruptive Innovationen zur Nutzung dieser neuen Technologie adaptiert (vereinfacht Web 2.0 ff. genannt), dass wir alle immer mehr erkennen, dass die gerade ablaufende Transformation in ihrer zivilisatorischen Bedeutung mit der Erfindung des Buchdruckes oder des Alphabets verglichen werden muss.
Die Kreation und Weitergabe von Wissen war in der Massengesellschaft eine hierarchische und individuelle Angelegenheit. In der Netzwerkgesellschaft ist die Kreation von Wissen zunehmend eine soziale Angelegenheit, die bspw. von Communities of Practice oder Communities of Learning ausgeübt wird. Mit dem Internet ist der Zugang zu Wissen einfach, billig und radikal selbstverständlich geworden. Die Herausforderungen und Aufmerksamkeitsfoki hierzu liegen jetzt ganz woanders: Erwerb, Kreation und Anwendung von Wissen erfordert die Kooperation aller Beteiligten. Können wird im Verhältnis zu Wissen relevanter. Das Wissen ist immer weniger eine individuelle als vielmehr eine kollektive Ressource einer Organisation. Angestellte, die wie früher ihre Wissens- und damit vermeintliche Machtpositionen durch Verweigerung von Kollaboration zu ihrem einseitigen Vorteil sichern möchten, scheitern jetzt. Personal- und Entwicklungsabteilungen, die in diesem Denken verhaftet bleiben, schaden ihrem Unternehmen. Karrieremodelle, Personalentwicklung usw. verändern sich dadurch. Wissen ist kein individueller Machtfaktor mehr, sondern limitiert durch die Kollaborationsfähigkeit in Organisationen.
Macht 2. Ordnung: Regeln und Monopole
Netzwerke stützen sich oft auf eine oder mehrere technische Plattformen wie Facebook oder Google zur vermittelten Kommunikation (so genannte “soziale Netzwerke”). Auf diesen Plattformen folgt die Vermittlung der Kommunikation implementierten Regeln. Sie ist programmiert und enthält Beschränkungen, z. B. Zugangsbeschränkungen (vgl. The Network Society, S. 40). Die Codierung dieser Regeln ist eine Form der Machtausübung. Aus der Sicht von Netzwerken liegt diese Macht auf der Metaebene (Macht 2. Ordnung). Die Netzwerkgesellschaft unterliegt zunehmend diesen Regelmächten, also den Betreibern von Netzwerkplattformen im Internet. Diese reglementieren den Zugang, zensieren regelmäßig die Inhalte der Kommunikation und sind damit die neuen (Meta-)Herrscher und Diktatoren in unserer Gesellschaft. Aktuelle praktische Beispiele sind Peter Glasers Schwanzhund, Facebook zenziert Emma oder die etwas ältere Klarnamendiskussion bei Google+.
Durch die Vielzahl ihrer (freiwilligen) Mitglieder bzw. Netzwerke bekommen Plattformbetreiber enorme Masse und Gravitation und werden vielleicht sogar zu schwarzen Löchern. Damit beeinflussen und verzerren sie massiv die Kommunikationen, Beziehungen und Handlungen in den Netzwerken. Zensur, Verzerrung und Indoktrination erinnern einerseits an Phänomene der Massengesellschaft, Mechanismen wie die Filter Bubble (Eli Pariser) zeigen aber auch ganz neue Machtqualitäten.
Als Gegenbewegung zu den neuen Regelmächten formieren sich immer stärker analoge und lokale Netzwerke und neue dritte Plätze. Zudem hacken die Mitglieder der diktatorischen Plattformen eben diese aber auch gleichzeitig durch emergente und retribalisierende Kommunikationscodes, immer spezialisierterer Sprachkonventionen und -entwicklungen (oh hai) oder Komplizenschaften. Selbst die chinesische KP kommt dagegen immer weniger an.
Die sterbenden Mächte der Massengesellschaft, bspw. die Rechteverwerter der Musik- und Literaturindustrie, versuchen krampfhaft, ihre Macht zu erhalten. Aus Sicht der Plattformen und Netzwerke versuchen sie von der Seite her einzusteigen und zu stören.
Die Übergangszeit ist unruhig und widersprüchlich
Die Netzwerkgesellschaft tendiert zu größerer Ungleichheit. Es ist ein Mythos zu glauben, Netzwerke seien flacher, demokratischer, offener, freier, zugänglicher, immer physisch ungebunden oder weniger sozial kohärent als andere Organisations- und Kommunikationsformen. Netzwerke sind gleichzeitig offen und geschlossen. Sie bieten freien Austausch und Zugang zu gegenseitigem Wissen, aber ebenso die Gefahr unfreiwilligen Wissens- und Beziehungs- und Technologietransfers. Alleinstellungs- und Differenzierungsmerkmale können verloren gehen.
Netzwerke leben von komplementären Fähigkeiten, Diversität, Inter- und Mulitdisziplinarität ihrer Mitglieder. Das Geheimnis erfolgreicher Netzarbeit ist die intelligente Kombination von Offenheit und Geschlossenheit, Skalenreduktion und Skalenerweiterung, Dezentralisierung und Zentralisierung (vgl. The Network Society, S. 49).
Netzwerke realisieren eine höhere Komplexität bzw. stellen eine höhere Komplexität bereit. Organisationsformen der Massengesellschaft können dies weniger gut leisten und geraten daher immer mehr in die Überforderung (oder Havarie, wie Gerhard Wohland sagen würde). Organisationale Überforderung ist ein heuristischer Indikator für unzureichende Komplexitätsfähigkeit – sie leiden und scheitern an Differenz zwischen interner und externer Komplexität.
In Netzwerken treten neue Formen von Identitäten in Erscheinung. Das digitale Ich ist eine eigenständige Figur mit einem eigenen Bezugsrahmen. Individuen können mit verschiedenen und gestalteten Identitäten auftreten und sich bewegen. Diese Identitäten hinterlassen Datenspuren, die wiederum für die Betreiber im Internet die Waren sind, also die Objekte, die gehandelt werden. Daten sind Waren, Daten sind Zahlungsmittel. Datenhygiene, algorithmische Verfolgung, Verselbständigung, Eigendynamik sind Themen im Zusammenhang mit diesen Identitäten. Das Internet als hochgradig verteilte, heterogene und volatile Software ist das neue gesellschaftliche Betriebssystem, so Gunter Dueck, und eine eigene soziale Umgebung, eine eigene Lebenswelt, vielleicht eine eigene Volkswirtschaft (vgl. Wikinomics von Tapscott/Williams), vielleicht sogar ein Wesen.
Marshall McLuhan habe ich so verstanden, dass er eine zivilisatorische Rückentwicklung fürchtete und auch viele meiner Freunde und Bekannte aller Altersstufen sind durch die neuen Kommunikationsformen verunsichert. Ich selbst glaube an keinen Rückfall oder Rückschritt. Alles, was vorher da war, bleibt. Das Neue baut darauf auf, entwickelt es weiter und relativiert das Alte damit. Ich denke da eher an den holistischen Organismus (Türkis) in Spiral Dynamics, einem Erklärungsmodell für gesellschaftlichen und zivilisatorischen Wandel (vgl. Blogbeitrag ein anderes Modell und it-camp vom 24.9.2010).
Wenn das Internet uns hilft, Teil eines neuen Wesens zu werden, Teil eines Kollektivs, dann in völlig anderer Form als die kollektiven Gleichschaltungen in der Massengesellschaft, bspw. im Dritten Reich oder im Kommunismus und auch anders als bei den totalitären Borg (die als hierarchisches Element noch eine Königin an der Spitze haben). Für mich fühlt sich die aufkeimende Netzwerkgesellschaft gerade wegen der Ausbildung einer kollektiven Intelligenz und eines kollektiven Bewußtseins nicht so an, als würde dies mit der Aufgabe oder den Verzicht des Individuellen verbunden sein – und das lässt mich staunen! Wachsen wir über uns hinaus?