Konsultativer Einzelentscheid: was und warum?

Selbstorganisierte Unternehmen praktizieren andere Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse als traditionelle Unternehmen. Da dort Entscheidungen weniger von hierarchischen Führungskräften ausgehen, trotzdem natürlich ständig entschieden werden muss, brauchen diese Organisationen andere Praktiken. In diesem Beitrag beschreibe ich, was ein konsultativer Einzelentscheid ist, warum er hilfreich ist und vergleiche ihn mit anderen Entscheidungspraktiken.

Konsens vs. Konsent

Aus der parlamentarischen Demokratie kennen wir für Großgruppen Konsens-Verfahren, bei der die Zustimmung einer Mehrheit entscheidet. Einwände und abweichende Ideen und Meinungen von Minderheiten werden inhaltlich übergangen, entscheidend sind die Zustimmungen. Wer einen Vorschlag gut verkaufen und vereinfachen kann, hat bessere Chancen. Das sind nicht immer die Experten, sondern Personen, die einfacher Aufmerksamkeit bekommen, bspw. das höhere Management und etablierte Funktionäre. Eine weitergehende Kritik an demokratischen Verfahren beschreibt Ralf Westphal in seinem Soziokratie-Blog.

Eine Alternative zum Konsens ist der Konsent, bei dem nicht die Zustimmung, sondern Einwände (Vetos) abgefragt werden. Akzeptiert wird jeder einwandfreie Vorschlag. Das ist einerseits eine niedrigere Akzeptanzschwelle, weil nicht die beste Lösung, sondern lediglich eine passende Lösung gesucht wird. Andererseits haben einzelne Personen eine ganz besondere Machtposition, da jeder einzelne eine Lösung verhindern kann. Weswegen die Bedeutung eines Einwandes bzw. Vetos auf keinen Fall mit einer Nein-Stimme im Konsens zu vergleichen ist. Während in der Demokratie die Menge zählt, geht es im Konsent um den Einzelnen und die Herrschaft des Argumentes.

Im Konsent geht es dabei nicht nur um die Nennung eines Einwandes, sondern der Einwendende ist auch verpflichtet, einen integrativen Beitrag zu leisten, also bspw. Vorschläge zu kreieren, wie die Lösung so verändert werden kann, dass sein Einwand entfällt. Sofern dies mit allen Einwänden gelingt, bewirkt ein integratives Entscheidungsverfahren eine geradezu bestechende Lösungsqualität.

Das Verfahren hat dennoch zwei Haken:

  1. Der Aufwand, alle Einwände zu integrieren, ist hoch.
  2. Bei größeren Gruppen ist der Aufwand nicht mehr praktikabel.

Konsentbasierte bzw. integratives Entscheidungsverfahren sind also für Großgruppen weniger geeignet.

Einsamer vs. konsultativer Einzelentscheid

Hat also die Hierarchie mit ihren festen Entscheidern, die ganz alleine schnell entscheiden, doch seine Berechtigung? Brauchen wir letztendlich doch das heroische Management?

Nein, denn es gibt den konsultativen Einzelentscheid.

Im Detail gibt es verschiedene Ausprägungen des konsultativen Einzelentscheides, denen gemeinsam ist,

  • dass eine Person alleine umfassend und verbindlich für alle bzw. andere entscheidet,
  • vorher jedoch mit relevanten Stakeholdern sprechen muss, also repräsentative Betroffene sowie Experten konsultiert haben muss, um deren Einwände, Fragen, Ideen und Ratschläge kennenzulernen.

Wie der konsultative Einzelentscheid bei unseren Kollegen von it-agile funktioniert hatte Stefan Roock kürzlich beschrieben. Bei it-agile wird bei übergreifenden Entscheidungen zunächst in einer 10-minütigen Timebox ein Konsent versucht, anschließend ein Einzelentscheider (per Konsent) bestimmt.

Es gibt aber auch Unternehmen, bspw. AES, in denen jeder unmittelbar prinzipiell alles entscheiden kann ohne dafür gewählt zu werden, solange der Entscheider konsultierend vorgeht.

Gruppen-Entscheidung

Wie funktioniert der konsultative Einzelentscheid?

Schritt 1: Entscheidungsbedarf identifizieren und formulieren

Ausgangspunkt ist, dass jemand einen Entscheidungsbedarf erkennt und als relevant empfindet. Dieser jemand formuliert (ggf. nach Konsultation von 2 – 3 KollegInnen)

a) wer die von der Entscheidung möglicherweise Betroffenen sind (bspw. ein Kreis oder alle),
b) was entschieden werden sollte,
c) welche Einzelperson die Entscheidung treffen soll (ggf. auch eine Kandidatenliste) und
d) ggf. welche Personen vor der Entscheidung konsultiert werden sollten.

Schritt 2: Entscheider auswählen und bevollmächtigen

Falls es für den Entscheider eine Kandidatenliste gibt, ist eine dieser Personen zu wählen – per Konsent, per einfacher Mehrheit, von den Kandidaten selbst – wie auch immer. Gibt es nur einen Kandidaten, ist dieser implizit oder explizit zu bevollmächtigen. Implizit heißt, der Kandidatenvorschlag wird allen Betroffenen (siehe a) mitgeteilt, eine angemessene Reaktionszeit abgewartet und sofern keine Einwände gemeldet werden, ist der Entscheider mit der Entscheidung beauftragt. Explizit heißt, der Entscheider wird per Wahl (Konsent oder Konsens) beauftragt.

Der Entscheider soll sich als ausreichend vertrauenswürdig, mit den notwendigen Mitteln ausgestattet, kompetent und kreativ für die Entscheidung fühlen, die Entscheidung soweit möglich auch selbst umsetzen und bereit sein, sich (auch den mittelbaren und späteren) Ergebnissen und Konsequenzen verantwortungsvoll zu stellen. Denken, Handeln und Ergebnisgewahrsein sollen möglichst nicht zwischen verschiedenen Personen aufgeteilt werden.

Schritt 3: Entscheidungsprozess (Einarbeitung ins Thema, Konsultation, Ausarbeitung und Vergleich von Lösungen, Auswahl einer Lösung)

Der Entscheider konsultiert nach eigenem Ermessen die gewünschten und alle weiteren von ihm selbst als hilfreich und notwendig erachteten Personen und versucht, deren Bedürfnisse, Interesse, Meinungen, Wissen und Ideen zum Thema und zu Entscheidungsoptionen zu verstehen sowie diese in die letztendliche Entscheidung zu integrieren.

Schritt 4: Bekanntgabe der Entscheidung

Der Entscheider stellt schließlich seine Entscheidung vor inklusive, welche Optionen er erwogen hat, wen genau er konsultiert hat und warum er so entschieden hat.

Allen Beteiligten muss bewusst sein, dass nicht jeder konsultiert werden muss, nicht alle Wünsche berücksichtigt werden können, die Entscheidung zu verzeihen ist und ein gemeinsames Lernen ermöglichen soll. Die Entscheidung gilt also und kann nicht angefochten werden. Sie kann allenfalls durch eine neue (konsultative oder plenare) Entscheidung ersetzt werden.

Dem Entscheider steht es frei, bewusst nicht zu entscheiden, also den Status quo zu bestätigen. Ebenso sollte er notfalls die Möglichkeit haben, im Sinne einer formalen Entlastung, sich seine Entscheidung vom Plenum per Konsens bestätigen zu lassen.

Warum konsultativer Einzelentscheid? Was spricht dafür?

Der konsultative Einzelentscheid vereint eine Reihe von Vorteilen anderer Entscheidungsverfahren:

  1. Der konsultative Einzelentscheid ist klar und effizient, weil die Entscheidung nur von einer Person ausgeht. Wie in der traditionellen Linienorganisation. Langwierige Verhandlungen, ätzende Gremienkompromisse und sachfremdes interessenspolitisches Geschachere werden jedoch vermieden.
  2. Der konsultative Einzelentscheid ermöglicht ähnlich wie integrative Entscheidungsverfahren eine hohe Entscheidungsqualität, weil wichtige Beiträge anderer Personen inhaltlich gewürdigt wurden. Es werden mehr Optionen einbezogen, es bietet mehr divergente Momente und ermöglicht auch unwahrscheinlichere und damit disruptivere Lösungen und Innovationen. In der traditionellen Linienorganisation bekommt das Management meistens um so verzerrtere und manipuliertere Informationen, je höher es hierarchisch ist. Beim konsultativen Einzelentscheid werden Personen gleichermaßen direkt und unabhängig von ihrer hierarchischen Position einbezogen.
  3. Die Entscheidung hat bessere Akzeptanz- und Umsetzungschancen, weil ein breiteres Spektrum an Stakeholdern vor der Entscheidung eingebunden wird. Bei heroischen Einzelentscheidungen von Linienmanagern geht es oft nur um Opportunität gegenüber hierarchisch höher Gestellten. Nach unten hin werden Entscheidungen oft nur verkauft, d.h. die Kommunikation beginnt meistens erst nach der Entscheidung. Ein konsultativer Entscheider sucht sich hingegen vorher gezielt Partner, die damit auch eine Würdigung erfahren. Selbst wenn deren Einwände oder Ideen letztendlich nicht berücksichtigt wurden, so wurden sie immerhin gehört. Sie erfahren Interesse und Aufmerksamkeit. Auch ist die Kommunikation nach der Entscheidung einfacher, weil wichtige Personen schon vorher durch die Konsultation informiert wurden und wissen, worum es geht.
  4. Lernen statt Pflichtübung. Die Entscheidung wird von einer Person getroffen, die die Entscheidung inhaltlich treffen möchte (Pull-Prinzip), die ein intrinsisches Interesse daran hat, oftmals auch eine Vision hat. Das ist bei Entscheidungen von Linienmanagern oder Gremien weniger wahrscheinlich, da sie gewöhnlich abstrakt und generalisiert, also losgelöst von konkreten Fällen Entscheidungsbedarfe geliefert bekommen. Für einen Linienentscheider ist eine Entscheidung im Zweifelsfalls einfach nur ein Arbeitsobjekt, umso mehr, je mehr die Entscheidung (Denken) personell von der Umsetzung (Handeln) getrennt wird. Für einen konsultativen Einzelentscheider geht es eher ums Lernen, Verstehen und Gestalten. Bei ihm liegen Denken, Entscheiden und Handeln in einer Person. Dieser Lern-Aspekt ist nicht zu vernachlässigen: was kann uns für unsere Weiterentwicklung besseres passieren, als an einer ganz konkreten, praktischen und realen Herausforderung zu arbeiten, zu wachsen, mit anderen sachkundigen Personen zu sprechen und von ihnen zu lernen?
  5. Die konsultative Einzelentscheidung skaliert besser und ist sowohl in kleinen Gruppen als auch in sehr großen Organisationen praktikabel.
  6. Für den Entscheider ist die Entscheidung immer auch eine persönliche Herausforderung, denn Aufmerksamkeit und Erwartungen vieler richten sich auf ihn. Für und über andere zu entscheiden bedingt und erzeugt Verantwortung. Beides kann auch eine Last sein. Der Vorteil ist aber, dass die Last der Entscheidung nicht immer der oder den gleichen Personen aufgebürdet werden muss, sondern für jeden Entscheidungsbedarf neu verteilt werden kann.

Wenn immer wieder davon gesprochen wird, die kreative Macht der Masse zu aktivieren, denn ist damit ja nicht die Reduktion auf kleinste gemeinsame Nenner oder eine Vermischung vieler Einzelideen  in einem großen Topf gemeint, sondern das die vielen Beteiligten sich gegenseitig inspirieren, eine hohe Divergenz d.h. eine Vielzahl von Lösungen entsteht, aus denen dann einzelne oder wenige Ideen selektiert werden. Das Ergebnis muss deswegen keine Gemeinschaftsidee sein, an der alle aktiv mitgewirkt haben, es kann trotzdem noch die direkt zuschreibbare Idee eines Einzelnen sein, die sich aber eben durchgesetzt hat.

Abschließend möchte ich noch die Möglichkeit erwähnen, an Stelle eines einzelnen Entscheiders für jeden übergreifenden Entscheidungsbedarf jeweils ein Entscheidungsteam zu wählen, sozusagen der konsultative Kleingruppenentscheid. Damit entfallen zwar einige der genannten Vorteile – aber die sachbezogene Zusammenstellung eines Entscheidungs- und Umsetzungsgremiums ist vermutlich immer noch besser als ein dauerhaft eingerichtetes und selbst nicht umsetzendes Funktionärsgremium.

Haben Sie Erfahrungen mit konsultativen Einzelentscheiden? Welche weitere Fragen, Vor- oder auch Nachteile fallen Ihnen noch ein?

Der konsultative Einzelentscheid und viele weitere Ideen und Praktiken sind übrigens auch Bestandteil unseres eintägigen Workshops Ideen und Praktiken zur Entscheidungsfindung und Verantwortung in Selbstorganisationen der am 26.8.2014 wieder stattfindet. Sehen wir uns da?

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar
  1. Als Beispiel einer konsultativen Kleingruppe gibt es bei it-agile die Gehaltschecker: vier von den Kollegen gewählten Gehaltschecker, legen die Gehälter bzw. das dazu angewandte Verfahren fest. Dass es eine Gruppe ist, ist historisch dadurch begründet, dass wir den konsultativen Einzelentscheid noch nicht kannten, als wir vor einigen Jahren mit den Gehaltscheckern starteten. Wir merken jetzt, dass die emotionale Belastung der Gehaltschecker sehr groß ist (Kollegen sind vielleicht unzufrieden, weil Hochstufungen verwehrt werden) und das könnte zu viel für einen einzelnen Kollegen sein.

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